Conny Falken

UNO inspizierte Deutschlands Bildungswesen

Es stand in allen Zeitungen: Die UNO schickte einen Inspektor, Prof. Vernor Muñoz, weil die deutschen Ergebnisse der PISA-Studien selbst in den zuständigen Gremien der Vereinten Nationen einen Schock ausgelöst hatten.
Herr Muñoz informierte sich über das Bildungswesen vor Ort und bekam u.a. einige (von deutschen Politikern ausgesuchte) Bildungseinrichtungen zu sehen, anschließend kommentierte er öffentlich seine Eindrücke. Neben Lob (wir freuen uns darüber!) gab es Kritik und Empfehlungen.

Grundrecht gefährdet

In Deutschland gebe es einen erschreckenden Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. So sei das Grundrecht auf Bildung gefährdet, lautet eine der Kernaussagen. Man sollte meinen, dass das hierzulande auch niemand bestreitet, dennoch konterte der Sprecher des Sächsischen Kultusministeriums, Dirk Reelfs, dazu unverzüglich, dies möge „vielleicht für Deutschland zutreffen, nicht aber für Sachsen.“ Diese Behauptung werden wir noch besprechen.

Der UNO-Inspektor kritisierte das dreigliedrige Schulsystem (in Sachsen ist das angeblich ein zweigliedriges, was die Sache aber keineswegs besser macht) und den Bildungsföderalismus in Deutschland. Es macht keinen Sinn, dass in Hamburg beispielsweise für Mathematik andere Lehrpläne gelten als beispielsweise in Baden-Württemberg, aber es hat in der Lehrerausbildung oder für Familien, die etwa wegen eines neuen Arbeitsplatzes umziehen wollen, ganz böse Konsequenzen.

Außerdem empfahl der Professor aus Costa Rica im Interesse sozial Schwacher und Migrantenfamilien eine spätere Trennung der Schullaufbahnen sowie eine (kostenlose!) Vorschulbildung. Er kann sich dabei auf internationale Erfahrungen stützen. Die PISA-Testsieger wie Finnland und Kanada machen es besser: Sie trennen ihre Kinder sehr viel später.

Seine Empfehlungen decken sich mit unseren Forderungen, nur können wir uns dabei auf unsere eigenen Erfahrungen stützen. Die Forderung der Linkspartei.PDS nach längerem gemeinsamen Lernen wird auch von anderen Organisationen und politischen Kräften getragen, wie von der FDP und den Grünen. Sogar Sachsens SPD hatte im Wahlkampf, als sie noch nicht in der Koalitionsregierung war, eine Reform in diesem Sinne propagiert.

Bildungspotenzial wird verschenkt

Die frühe Auslese schließt Spätentwickler von einer fairen Beurteilung bei der Bildungsempfehlung und damit von gerechten Bildungschancen aus. Eine so genannte Durchlässigkeit, also der spätere Wechsel von der Mittelschule an das Gymnasium, ist in Wahrheit nicht gegeben.

Eine längere gemeinsame Schulzeit fördert entscheidend die Entwicklung des Sozialverhaltens und der Sozialkompetenz. Die Kinder lernen Möglichkeiten zur gemeinsamen Hilfe effektiv kennen, Führungskompetenzen können sich besser entwickeln. Die gegenseitige Erfahrung unterschiedlicher Lebenswelten ist möglich. Letzteres ist sicher ein ganz wichtiger Punkt, weil heute Kinder oft keine andere Möglichkeit haben, unterschiedliche Lebenswelten kennen zu lernen. Auch für Ausländer- und Aussiedlerkinder ergeben sich weitaus bessere Integrationsmöglichkeiten.

Nur eine längere gemeinsame Schulzeit ermöglicht eine adäquate individuelle Förderung aller Kinder, also die individuelle Förderung der Leistungsstarken, des Mittelfeldes und der Leistungsschwachen. Diese Einteilung ist ja nicht statisch. Sie kann sich zum Beispiel durch optimale Förderung im Laufe der Zeit verändern. Eine frühzeitige Trennung ist aber gleichbedeutend mit einer statischen Einteilung und geht klar am Ziel vorbei.

Es gibt heute auch Schülerinnen und Schüler, die eher „irrtümlich“ zum Gymnasium gekommen sind und die Anforderungen bereits in der 5. und 6. Klasse nicht oder nur schwer, vielleicht nur mit Nachhilfeunterricht erfüllen können. Bei längerem gemeinsamen Lernen wären sie nicht hinten an, sondern könnten sich entwickeln. Individuelle Förderung könnte mit dynamischen Zielstellungen optimiert werden. Vielleicht zeigt sich in der 8. Klasse, dass sie die Anforderungen der Sekundarstufe II erfüllen können, vielleicht auch nicht. Letzteres wäre auch ein Ergebnis – immerhin besser ist als ein nicht bestandenes Abitur. Dieselbe Argumentation gilt umgekehrt auch für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die heutzutage irrtümlich nicht aufs Gymnasium gehen.

Nicht nur mehr soziale Gerechtigkeit

„Optimale individuelle Förderung“ und „Keinen zurücklassen“ sind nicht nur Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit. Bereits heute klagen Industrie und Handwerk regelmäßig über unzureichende Kenntnisse und Fertigkeiten der Auszubildenden, die sie von der Schule übernehmen. Bitte nicht falsch verstehen: Der größte Teil der Schulabgänger hat einen Schulabschluss und solide, teilweise auch ausgezeichnete Kenntnisse und Fertigkeiten. Aber selbst in Sachsen verlassen über 10% die Schule ohne jeden Abschluss! Die persönliche Lebensperspektive dieser Jugendlichen soll an dieser Stelle ’mal gar nicht diskutiert werden, jedoch wir alle können uns das einfach nicht leisten! Die demographische Prognose fällt für Sachsen besonders prekär aus (Stichworte: Geburtenrate und Wegzug junger Leute in den Westen), so dass der Freistaat in wenigen Jahren zu einem Land mit einem Mangel an Facharbeitern wird, wenn es so weiter geht. Wer soll dann hierzulande investieren, wer soll dann hierzulande arbeiten und die Lebensgrundlagen erwirtschaften? Wir brauchen jeden Einzelnen! Und die Voraussetzungen müssen wir heute leisten – sonst geht es uns morgen schlecht.

„In Sachsen ist alles besser“

Angeblich, so jedenfalls Dirk Reelfs, Sprecher des Sächsischen Ministeriums für Kultus, gibt es in Sachsen nicht den bundesweit beobachteten Zusammenhang zwischen sozialer Lage des Elternhauses und Bildungschancen der Kinder.

Wir wissen es aus eigener Anschauung besser, aber tatsächlich weisen die Statistiken der PISA-Studien aus, dass Sachsen diesbezüglich besser da steht als die meisten anderen Bundesländer. Das ist erfreulich, aber woran liegt das? Kann Herr Reelfs Maßnahmen seines Ministeriums vorweisen, die vielleicht Vorbild für ganz Deutschland werden könnten? Nein, kann er nicht.

Eine mögliche Erklärung ist die: Hier wirkt (noch) die DDR-Vergangenheit nach. Viele gut ausgebildete Sachsen mussten nach der Wende abrupt ihre berufliche Laufbahn beenden. Einige von ihnen gehören heute zu den „sozial Schwachen“. Eine Arbeit im erlernten Beruf haben sie nicht mehr, aber die Wertschätzung einer guten Ausbildung kann man ihnen nicht nehmen. Sie tun alles für eine gute Bildung ihrer Kinder – so weit sie können – und verursachen damit einen bemerkenswerten statistischen Effekt.

In den westlichen Bundesländern ist die Vererbung von Bildungsarmut längst alltäglich, statisch nachgewiesen – siehe oben. Und selbstverständlich wird diese Katastrophe auch über Sachsen kommen, wenn nichts dagegen getan wird.

Selbstbestimmung ermöglichen

In der 8. oder 10. Klasse sind die Schülerinnen und Schüler – anders als in der 4. Klasse – durchaus in der Lage, gemeinsam mit ihren Eltern verantwortlich über ihren weiteren Bildungsweg zu bestimmen. Auch die Eltern, die für ihr Grundschulkind eher tradiert entschieden, haben inzwischen ihre Kompetenz in dieser Frage tatsächlich gewonnen. Nur eine längere gemeinsame Schulzeit entspricht also dem Grundsatz der freien Selbstbestimmung.

Was der Einzelne aus seinen Chancen macht, hängt immer von vielen Faktoren ab, insbesondere von ihm selbst, das ist klar. Aber ob ein Kind bestimmte Bildungschancen überhaupt bekommt, darf nicht von seiner sozialen Herkunft abhängen. Das ist nicht nur ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, sondern ganz existenziell für unsere Gesellschaft.

Danksagung

Ich bin der UNO und Prof. Vernor Muñoz dankbar für seine Inspektion und für seine Analyse. Das wussten wir zwar schon alles längst, aber vielen deutschen Bildungspolitikern wird es erst richtig peinlich, wenn auch das Ausland auf die Missstände hinweist.

 

Eine andere Politik ist möglich!

eMail an Cornelia Falken: conny-falken@web.de

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