Cornelia Falken: Reden im Sächsischen Landtag

 

4. Sitzung des Sächsischen Landtages
11. November 2004

Protokollauszug - Es gilt das gesprochene Wort!


Für längeres gemeinsames Lernen


Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Damen und Herren!

Die frühzeitige Trennung des Bildungsweges gehört im internationalen Vergleich zu den Besonderheiten des deutschen Schulsystems und ist gleichzeitig eine seiner größten Schwächen. In der Regel schon nach dem ersten Halbjahr der 4. Klasse erhalten die Eltern eine Bildungsempfehlung für den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder, die von den Grundschullehrerinnen und -lehrern verantwortungsbewusst und sorgfältig erstellt wird. Die Pisa-Studie und die Iglu-Studie haben aber nachgewiesen, dass diese Empfehlung oft nicht optimal gelingt oder, wenn doch, nicht selten von dem Elternwillen umgestoßen wird. Das Schulkind wird dabei zum Subjekt und kann objektiv nicht bei der Entscheidung mitwirken.

Alle demokratischen Parteien außer der CDU haben im zurückliegenden Wahlkampf für eine längere gemeinsame Schulzeit plädiert. Lassen Sie mich hier noch einmal darstellen, welche Argumente dafür sprechen und welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind.

Erstens: Die frühe Auslese schließt Spätentwickler von einer fairen Beurteilung bei der Bildungsempfehlung und damit von gerechten Bildungschancen aus. Eine so genannte Durchlässigkeit, also der spätere Wechsel von der Mittelschule an das Gymnasium, von der immer wieder geredet wird, ist in Wahrheit nicht gegeben. Wie sollte dieser Wechsel funktionieren, wenn zum Beispiel an den Gymnasien in der 6. Klasse eine zweite Fremdsprache eingeführt wird, an der Mittelschule jedoch nicht? Der entsprechende Passus in der Koalitionsvereinbarung der Regierungsparteien zeigt, merke ich an, dass dieses Problem durchaus wahrgenommen wird. Wer ihn noch nicht gelesen hat, der sollte das bei Gelegenheit tun, denn was da geschrieben wird, kann nicht einmal als Absichtserklärung ernst genommen werden. Leider ist das nicht der einzige Schwachpunkt in dieser Vereinbarung.

Zweitens: Eine längere gemeinsame Schulzeit fördert entscheidend die Entwicklung des Sozialverhaltens und der Sozialkompetenz.

(Beifall bei der PDS)

Die Kinder lernen Möglichkeiten zur gemeinsamen Hilfe effektiv kennen. Führungskompetenzen können sich wesentlich besser entwickeln. Die gegenseitige Erfahrung unterschiedlicher Lebenswelten ist möglich. Das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt, weil heute Kinder die unterschiedlichen Lebenswelten gar nicht mehr kennen lernen. Für Ausländer- und Aussiedlerkinder ergeben sich weitaus bessere Integrationsmöglichkeiten. Ich möchte ausdrücklich anmerken, dass dieser Aspekt nicht nur durch die Interessen der betroffenen Kinder begründet ist. Schließlich geht es auch darum, Benachteiligungen von Schülerinnen und Schülern wegen ihrer sozialen Herkunft zu verringern. Solche Benachteiligungen wirken sich für die Gesellschaft verheerend aus, weil damit soziale Unterschiede wie eine Kettenreaktion vertieft und verfestigt werden.
Was der Einzelne aus seinen Chancen macht, hängt immer von vielen Faktoren ab. Das ist ganz klar. Aber ob ein Kind bestimmte Bildungschancen überhaupt bekommt, darf nicht von seiner sozialen Herkunft abhängen. Das ist nicht nur ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch existenziell für unsere Gesellschaft.

(Beifall bei der PDS)

Drittens: Nur eine längere gemeinsame Schulzeit ermöglicht eine adäquate individuelle Förderung aller Kinder und damit meine ich ausdrücklich: der Leistungsstarken, des Mittelfeldes und der Leistungsschwachen. Diese Einteilung ist ja nicht statisch. Sie kann sich zum Beispiel durch optimale Förderung im Laufe der Zeit verändern. Eine frühzeitige Trennung ist aber gleichbedeutend mit einer statischen Einteilung und geht klar am Ziel vorbei. Ich denke dabei auch an Schülerinnen und Schüler, die heutzutage eher irrtümlich zum Gymnasium gekommen sind und die Anforderungen bereits in der 5. und 6. Klasse nicht oder nur schwer, vielleicht nur mit Nachhilfeunterricht erfüllen können. In einer Regelschule wären sie nicht bis zur 8. Klasse hintan, sondern könnten sich entwickeln. Individuelle Förderung könnte mit dynamischen Zielstellungen optimiert werden. Vielleicht zeigt sich in der 8. Klasse, dass die Anforderungen eines Gymnasiums und der Sekundarstufe II erfüllt werden können, vielleicht auch nicht. Das ist auch ein Ergebnis, das immerhin besser ist als ein nicht bestandenes Abitur. Dieselbe Argumentation gilt umgekehrt natürlich auch für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die heutzutage irrtümlich nicht aufs Gymnasium gehen.

Das Stichwort Ganztagsschule gehört auch an diese Stelle. Es liegt auf der Hand, dass für das Konzept der individuellen und optimalen Förderung hier schon rein organisatorisch bessere, besonders gute Voraussetzungen bestehen. Aber Ganztagsschule ist für sich ein Konzept und keine organisatorische Maßnahme. Deshalb möchte ich heute nichts weiter dazu ausführen, sondern es erst einmal bei diesem Stichwort belassen.

Viertens: Eine längere gemeinsame Schulzeit entspricht auch dem Grundsatz der Selbstbestimmung.

(Beifall bei der PDS)

Zitat aus der Koalitionsvereinbarung der Regierungsparteien: „Bildung und Erziehung sollen junge Menschen zu einer selbstbestimmten und verantwortungsvollen Lebensgestaltung befähigen.“
In der 8. Klasse sind die Schülerinnen und Schüler – anders als in der 4. Klasse – durchaus in der Lage, gemeinsam mit ihren Eltern verantwortlich über ihren weiteren Bildungsweg zu bestimmen. Auch die Eltern, die für ihr Grundschulkind eher tradiert entschieden, haben inzwischen ihre Kompetenz tatsächlich gewonnen. Eine Bildungsempfehlung ist deshalb überhaupt nicht mehr notwendig und irgendwelche Quotierungen, die es nach wie vor irgendwo gibt, auch nicht. Ich halte diesen Aspekt für sehr wichtig.

Sehr geehrte Damen und Herren! Die gemeinsame Schulzeit, die bis zur 8. Klasse führt, ist keine Einheitsschule. Wer so etwas von sich gibt, hat entweder keinerlei Kompetenz zum Thema oder will unredlich Leute verdummen. Merke: Gemeinsame Schule ist keine Einheitsschule, im Gegenteil, denn erst die längere gemeinsame Schulzeit eröffnet die Möglichkeit zur optimalen Ausschöpfung der individuellen Potenzen.
Auch ohne weitere Ausführungen zur Umsetzung dieses Konzeptes ist absehbar, dass eine gemeinsame Schulzeit bis zur 8. Klasse nicht durch einen Verwaltungsakt erledigt wird, sondern in eine umfassende Reform des Lehrens und Lernens eingebettet sein muss. Darum geht es eigentlich.
Zu meinem Bedauern muss ich beim Lesen des Koalitionsvertrages zwischen der CDU und der SPD feststellen, dass davon entgegen den Ankündigungen keine Rede mehr ist und die gemeinsame Schule bis zur 8. Klasse überhaupt nicht mehr vorkommt.

(Gunther Hatzsch, SPD: Richtig lesen!)

Sehr geehrte Damen und Herren der SPD! Ich gehe davon aus, dass Sie nicht vergessen haben, was Ihre Aussagen im zurückliegenden Wahlkampf waren. Wenn doch, möchte ich Sie hier und heute daran erinnern. Deshalb fordere ich Sie besonders auf, unseren Antrag als ersten Schritt für eine dringend notwendige umfassende Reform des Lehrens und Lernens zu unterstützen.

(Beifall bei der PDS)


eMail an Cornelia Falken: conny-falken@web.de      

Zurück zur Übersicht